Abschied von Robert Levin

Lieber Robert,

dass mir heute, zu diesem feierlichen und gleichzeitig sehr besinnlich stimmenden Tag Deines Abschieds vom Präsidentenamt des Leipziger Bach-Wettbewerbs die Ehre zufällt, ein paar Worte des Dankes zu sprechen, erfüllt mich selbst mit tiefer Dankbarkeit. Wem würde es nicht zur Ehre gereichen, einem der wenigen noch aktiven, größten Universalgelehrten unter den Musikern eine ehrenvolle Laudatio halten zu können? Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich übertreibe nicht im Geringsten. Meines Wissens gibt es kaum einen so umfassend gebildeten, den musikalischen Kosmos nicht nur in Kopf und Herz tragenden, sondern auch aktiv verkörpernden Pianisten, Organisten, Cembalisten, Clavichordionisten, Dirigenten, Forscher und Pädagogen wie Robert Levin.

Wo beginnen bei einem so reichen, ganz im Dienste der Kunst stehenden Leben? Bei den zahlreichen Aufnahmen, die diesen an gehobenen Schätzen reichen Weg säumen, bei den fast unzähligen Konzerten, gegeben praktisch auf allen nur denkbaren Tasteninstrumenten, bei den in allen Musikzentren gehaltenen Meisterkursen, den musikalischen Schriften und Urtext-Ausgaben, den Vorträgen und Interviews? Es würde Stunden, ja Tage dauern, das alles auch nur einigermaßen angemessen zu würdigen, und so bleibe ich doch lieber bei der mir zugesprochenen Aufgabe, die seit 2002 währende Präsidentschaft des Internationalen Johann Sebastian Bach-Wettbewerbs zu ehren.

Dass es den Wettbewerbsverantwortlichen um die Jahrtausendwende gelang, keinen Geringeren als Robert Levin für die Übernahme des Präsidentenamtes zu gewinnen, war ein Beschluss, der nicht nur Leipzig, sondern der ganzen internationalen Bach-Szene zur Ehre gereichte. 2002 war es soweit: Zum ersten Mal fand der Bach-Wettbewerb unter der Gesamtleitung von Robert Levin statt. Es war in der Tat ein Meilenstein, der für die nächsten 22 Jahre nicht etwa festgemauert stehen sollte, sondern lediglich den Anfang markierte für eine Reihe von Neuerungen, die bei einem immer alles umfassend im Blick habenden Musiker wie ihm nur zu folgerichtig waren: erstmals wurde 2002 die Sparte Violine mit Barockvioline gekoppelt, zwei Jahre später folgte diese Erweiterung auch im Fach Violoncello, das durch das Fach Barockvioloncello erfolgreich ergänzt wurde. Ebenfalls 2004 bekamen die Juroren des Wettbewerbs ein völlig neues Regelwerk in Bezug auf die Wertungsvorgänge vorgelegt, das seitdem immer weiter verfeinert und perfektioniert wurde. Was hier mit einem Satz so lapidar geschildert wird, war das Ergebnis intensivsten und langen Nachdenkens, denn die Klagen vieler Teilnehmer internationaler Wettbewerbe über zu wenig Transparenz und Nachvollziehbarkeit bei Jurybeurteilungen können keinen Musiker kaltlassen, der seinen pädagogischen Auftrag ernst nimmt, zumal hier in Bachs Namen geurteilt wird. Es kam tatsächlich das meiner Kenntnis nach umfangreichste und detaillierteste Regelwerk heraus: Das herkömmliche Punktsystem wurde abschafft, die Entscheidung über das Erreichen der nächsten Runde erfolgte nur noch durch eine streng limitierte Zahl positiver Wertungen in Form eines einfachen „Ja“ sowie eine (etwaige Gleichstände ergänzende) Zusatzwertung – die sogenannten Bach-Punkte, mit deren Hilfe notwendiges Hintergrundwissen, künstlerische Ausstrahlung, interpretatorische Reife und natürlich sichere Beherrschung der Bach-Werke gewürdigt werden. Ebenfalls 2004 wurde die Vorauswahl als erste Vorstellungschance der späteren Wettbewerbsteilnehmer eingeführt. Bereits bei dieser rechtzeitig für Klarheit sorgenden Betrachtung wurde und wird der größte Wert auf die Beachtung der Tatsache gelegt, dass der Leipziger Bach-Wettbewerb kein Eldorado für preissüchtige Musiker sein darf. Robert Levin wurde nie müde zu betonen, dass technische Souveränität und natürliche Virtuosität nur die Grundlagen bilden können für das eigentliche Ziel der langen Reise zu Bach. Übrigens datiert auch die Anberaumung der Jurygespräche mit den ausgeschiedenen Teilnehmern auf das Jahr 2004 – diese für jeden Juror verpflichtende Aktivität hat seither für viel Entspannung und Aufklärung gerade bei denen gesorgt, die nach großen Anstrengungen erfahren müssen, dass ihre Wettbewerbsteilnahme ein früheres Ende fand als erhofft.

Eines scheint mir ganz klar: Wer den Bach-Wettbewerb noch aus der Zeit vor der Jahrtausendwende kennt, wird diese Leistungen in Bezug auf Modernisierung und Aktualisierung ganz besonders würdigen und kann dem Spiritus rector dieser notwendigen Pionierarbeiten nur von Herzen dankbar sein. Robert Levins erklärtes Ziel war es immer, »seinen« Wettbewerb in Zusammenarbeit mit dem Bach-Archiv und anderen musikalischen Institutionen vor Ort als gewichtigen Beitrag zur Bach-Pflege und Bach-Forschung zu stärken und damit Leipzig zu einem Drehkreuz der internationalen Bach-Forschung zu machen. Wie diese hohe Zielvorgabe über die Jahre erreicht wurde, wird sowohl durch die Zunahme internationaler Bewerberzahlen als auch durch das Interpretationsniveau der gebotenen Leistungen eindrucksvoll bewiesen. Dafür gilt dem bis heute amtierenden Präsidenten Prof. Dr. Robert Levin noch einmal unser sehr herzlicher und aufrichtiger Applaus!

Verbunden mit diesem Beifall sind unweigerlich die guten Wünsche, sowohl für die Zukunft des Wettbewerbs als auch für den Mann, der ihm ein neues Gesicht verliehen hat. Mir kommen aus Anlass dieser feierlichen Stunde Erinnerungen, die so schön und prägend waren, dass ich mir erlaube, hier einige davon wiederzugeben ... Unvergessen sind für mich, lieber Robert, sowohl Deine Meisterkurse in Vorbereitung auf den Bach-Wettbewerb wie auch die Meisterkurse, die Du mehrmals für die Studierenden der HMT Leipzig gehalten hast. Einmal kam das Gespräch auf Mozarts Improvisationskünste und seine Ratschläge an das geliebte Nannerl; seine Schwester hatte um Hilfe betreffs des besten Weges von A nach B gebeten. Du spieltest die komplette von Mozart notierte Version aus dem Gedächtnis nach, was sämtliche Anwesende in staunende Begeisterung versetzte. (Fast überflüssig, zu erwähnen, dass Du bei Aufführungen von Mozart-Konzerten an jedem Abend eine andere Kadenz frei improvisierst, so, wie es der Meister früher selbst gehalten hat.) Einmal saßen wir nach einem gemeinsamen Kurs-Tag beim Essen und ich erwähnte die mir nicht immer logische Anordnung von Akzenten bei einer Urtext-Ausgabe von Schubert-Sonaten – Du konntest mir beim 3. Satz der »Gasteiner Sonate« natürlich sofort die Ungereimtheiten besagter Edition aufzeigen und Vergleichsbeispiele anderer Urtext-Ausgaben nennen, die näher am Autograph wie auch der Erstausgabe waren. Bei einem Zyklus von Poulanc waren die von Dir oft auch humorvoll aufgezeigten Querverbindungen zu anderen Komponisten dieser Zeit augenöffnend, genau wie Dein Hinweis auf einen musikalischen Gruß Mozarts an seinen Vorgänger Carl Philipp Emanuel Bach, ohne dessen Wirken Mozarts Stil einen schwierigeren Start gehabt hätte. Egal, ob beim Kursgeschehen oder bei Gesprächen über das Musik-Universum nach getaner Arbeit: Man war mit Dir schon nach einer Minute zum Innersten der Materie vorgedrungen, ohne dabei das große Ganze aus den Augen zu verlieren. Dafür, lieber Robert, und für vieles mehr danke ich Dir heute auch ganz persönlich aus tiefstem Herzen.

So bleiben nun die schon erwähnten guten Wünsche für weiteres Glück und Aufklärung bringendes Wirken, einhergehend mit der Hoffnung auf eine stabile Gesundheit, die natürlich nicht alles richten kann, ohne die aber alles doch irgendwie nichts ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Anwesende: Ich bitte erneut um einen langen und anhaltenden Applaus für einen der großen Musiker und Gelehrten unserer Zeit, für Prof. Dr. Dr. hc. mult. Robert Levin!

Gerald Fauth
am 27. Juli 2024

Foto: Bach-Archiv / Gert Mothes

off